Wahnsinn Wärmedämmung: Hochhaus in Wuppertal geräumt

London/Wuppertal – Am 14. Juni brach im Grenfell Tower in London ein Feuer aus. Brandursache: ein defekter Kühlschrank. Über die Fassade breitete sich der Brand rasend schnell aus. Wie sich hinterher rausstellte, war die Fassade mit einer brennbaren Verkleidung aus Aluminium und dem Kunststoff Polyethylen als Dämm-Material versehen. In Deutschland kann so etwas nicht passieren, hieß es nach dem Unglück mehrheitlich. Diese Aussage muss bezweifelt werden. Und es scheint, als seinen  auch in Deutschland die Behörden endlich aufgewacht. In Wuppertal wurde gestern ein Hochhaus geräumt.  

Frankfurts Feuerwehrchef Professor Reinhard Ries gehörte von Anfang zu den Bedenkenträger bei solchen Aussagen. Im ZDF sagte er wörtlich: “Ich möchte meine Hand nicht dafür ins Feuer legen, dass so etwas wie in London in Deutschland nicht auch passieren kann.” Ries weiß, wovon er spricht. Bei der BF Frankfurt wird im Auftrag der AGBF-Bund (Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeuerwehren) eine Liste geführt, in der sämtliche Brände mit brennbaren Dämmstoffen an Gebäuden verzeichnet sind. Die so genannte Frankfurter Liste umfasst inzwischen über 100 Brandereignisse aus ganz Deutschland. Und da keine Meldepflicht besteht, dürfte die Dunkelziffer noch viel größer sein.

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Frankfurter Feuerwehrleute bekämpfen den Brand einer Fassade eines Mehrfamilienhauses. Foto: BF Frankfurt (Bild: Rolf Oeser)

Eine Überprüfung von weiteren 75 Hochhäusern in Großbritannien, die mit der Fassadenverkleidung vom Typ Reynobond PE versehen sind, brachte erschreckende Ergebnisse: keins der überprüften Gebäude bestand den Sicherheitstest. Der US-Hersteller Arconic stoppte deshalb den Verkauf weltweit. Ein Sprecher begründete die Entscheidung mit Bedenken, die nach Grenfell-Tragödie aufgekommen seien. Für niedrige Gebäude soll die Kombination aus Aluminium und dem Kunststoff Polyethylen aber weiter angeboten werden.

Deutschland dämmt mit Styropor

Und in Deutschland? Hierzulande sind die Gebäude häufig mit Platten aus expandierendem Polystyrol, besser bekannt als Styropor, gedämmt. Er ist leicht zu verarbeiten und vergleichsweise günstig. Deshalb entscheidet sich die Mehrheit der Bauherren für dieses Material. Doch Styropor wird aus Erdöl hergestellt – und ist brennbar. Nicht brennbare Dämmstoffe wie Steinwolle, Glaswolle oder Mineral-Schaumplatten sind etwa 30 Prozent teurer.

Wahnsinn Wärmedämmung

Unter diesem Titel berichtete das Feuerwehr-Magazin bereits in der Januar-Ausgabe 2016 auf neun Seiten über das enorme Sicherheitsrisiko durch die Wärmedämmung von Gebäuden mit Styropor. Das Unglück in London zeigt, das Thema hat nichts von seiner Brisanz verloren.

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Da die Styropor-Dämmplatten empfindlich sind, benötigen sie eine Schutzhülle. Die erste Schicht besteht aus einem Unterputz, in den eine Armierung aus einem stabilen Kunststoffgewebe eingebettet wird. Zuletzt kommen noch ein mehr oder weniger dicker Oberputz und Farbe drauf – fertig ist das Wärmedämmverbundsystem (WDVS).

Ein Mülltonnenbrand griff in Hamburg auf die Fassade über und breitete sich über einen Lichtschacht bis ins Dachgeschoss aus. Foto: Zimmermann

Bundesweit kleben die Hartschaumplatten nach Schätzungen auf etwa 800 Millionen Quadratmeter Fassade – eine Fläche größer als das Stadtgebiet von Hamburg. Jährlich kommen über 30 Millionen Quadratmeter hinzu. Diese Entwicklung bereitet vielen Brandschützern Sorgen.

Ein intaktes WDVS schützt das Dämmmaterial tatsächlich relativ wirksam bei Bränden. In der Realität weist das Wärmedämmverbundsystem aber sehr häufig Beschädigungen auf: durch Alterungserscheinungen, durch Stöße, durch Tiere, durch Vandalismus. Die Folgen können fatal sein.

„Ab einem bestimmten Energieeintrag haben wir es mit einer Flüssigkeit zu tun, die brennt wie Heizöl“, erläutert Branddirektor Peter Bachmeier von der BF München. Der Schmelzpunkt von Polystyrol liege bei 240 Grad Celsius. „Wenn diese Schmelze durch das Aufreißen der Putzschicht in das Feuer läuft, dann kriegen wir eine schlagartige Brandausbreitung über das gesamte Gebäude.“ Der Kleinbrand an einer Fassade könne innerhalb weniger Minuten zum Gebäudebrand werden.

Fassadendämmung hat Brandlast wie Heizöl

Bachmeier hat nachgerechnet: „Wenn eine Mülllagerung brennt und eine Fassadenfläche von 5 mal 10 Metern erwärmt, bei einer Dämmschichtdicke von 25 Zentimetern, dann laufen in diesen brennenden Unrat quasi 220 Liter Heizöl. Bis die Feuerwehr kommt, steht das Gebäude im Vollbrand.“

Inzwischen sehen auch die Behörden in Deutschland dieses Brennverhalten deutlich kritischer, als noch vor einigen Jahren. Aufgeschreckt durch das Unglück in London wird genauer hingesehen.

Sicherheitsbedenken: Wuppertal lässt Hochhaus räumen

Am Dienstag ließ die Stadt Wuppertal ein elfgeschossiges Hochhaus im Quartier Hilgershöhe räumen. Grund ist eine brennbare Fassade an dem Haus in Kombination mit Rettungswegen, die über Außenbalkone führen und im Brandfall womöglich nicht mehr genutzt werden können.

In dem Hochhaus sind 72 Menschen gemeldet. Die Bewohner wurden von Mitarbeitern der Bauordnung, des Ordnungsdienstes, der Feuerwehr und der Polizei über die zu ihrer Sicherheit notwendige Räumung informiert und aus ihren Wohnungen begleitet. Hilfebedürftige Bewohner bekamen Unterstützung vom Ordnungs- und vom Rettungsdienst der Feuerwehr. Die Bewohner, die nicht kurzfristig bei Verwandten oder Freunden unterkommen konnten, wurden von der Stadt in komplett ausgestatteten Wohnungen untergebracht.  Sobald die brennbare Fassade – und damit die Gefahr – vom Eigentümer beseitigt worden ist, kann das Gebäude wieder genutzt werden.

Wegen möglicher Brandgefahren durch die Fassadendämmung wurde ein Hochhaus in Wuppertal geräumt. Foto: Bergmann

„Es ist eine einschneidende Maßnahme für die Menschen, die dort wohnen“, erklärte Baudezernent Frank Meyer während der Räumungsaktion. „Das ist uns bewusst. Aber in Kenntnis von London wurde eine Neubewertung der Gefahrenlage notwendig. Wenn unmittelbare Gefahr für Leib und Leben besteht, müssen die Menschen in Sicherheit gebracht werden.“

Wie gefährlich Wärmedämmungen aus Styropor in Deutschland sind, dass berichtete das Feuerwehr-Magazin bereits in der Januar-Ausgabe 2016. Darin gibt es auch konkrete Tipps für Feuerwehren, worauf sie sich im Einsatz einstellen müssen. Hier geht es zum Download. 

vfdb fordert: Fassaden kontrollieren

Die Vereinigung zur Förderung des Deutschen Brandschutzes e.V. (vfdb) appelliert an die zuständigen Behörden, auch in Deutschland die Fassadenverkleidungen von Hochhäusern dringend unter die Lupe zu nehmen. “Auch wenn die Vorschriften bei uns als streng gelten, hat der Vorfall in Wuppertal gezeigt, dass die Regeln nicht überall konsequent eingehalten werden”, sagte vfdb-Präsident Dirk Aschenbrenner am Mittwoch. Bereits unmittelbar nach dem verheerenden Hochhausbrand in London hatte die vfdb gefordert, vor allem ältere Hochhäuser in Deutschland zu überprüfen.

“Was nützen die besten Vorschriften, wenn sie nicht eingehalten werden”, gab Aschenbrenner zu bedenken. Zumindest müsse befürchtet werden, dass es auch hierzulande noch gefährdete Gebäude gebe. Doch nicht nur die Behörden seien gefordert. Der vfdb-Präsident rief zugleich Hauseigentümer auf, nicht erst auf behördliche Anordnungen zu warten, sondern auch selbst aktiv zu werden. „Das ist schlicht eine Frage der Verantwortung den Menschen gegenüber, die in den Gebäuden wohnen“, so Aschenbrenner. “Es wäre unfassbar, wenn auch bei uns erst eine Katastrophe passieren müsste, damit die Verantwortlichen tätig werden.”

Die Erfahrungen der vergangenen Wochen sollten nach Ansicht Aschenbrenners auch Anlass sein, die Muster-Hochhausrichtlinien, die noch nicht in allen Bundesländern Vorschrift seien, flächendeckend einzuführen. Auch sei es an der Zeit zu überprüfen, ob die bisherigen Regelungen für Gebäude unter 22 Meter Höhe ausreichen. “Dort, wo entflammbares Material verwendet werden darf, muss überlegt werden, ob die Möglichkeiten zur Brandweiterleitung nach den geltenden Verordnungen hinreichend begrenzt sind”, gab Aschenbrenner zu bedenken und verwies auf ein kürzlich verabschiedetes Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeuerwehren, des Deutschen Feuerwehrverbandes und der vfdb zur Brandsicherheit von Wärmedämmverbundsystemen an Fassaden mit Polystyrolschaum als Dämmstoff.

vfdb-Präsident Dirk Aschenbrenner im ARD Morgenmagazin

“Unsere Kernforderungen beziehen sich auf Gebäude unterhalb der Hochhausgrenze, also Gebäude bis 22 Meter Höhe”, so Aschenbrenner. “Dazu zählt: Pro Etage nichtbrennbare Riegel in die Fassadendämmung einzubauen und das Erdgeschoss so gestalten, dass eine Brandübertragung durch abgestellte Fahrzeuge oder Container vor der Fassade unterbunden wird. Außerdem sollte ein Test etabliert werden, welcher der Wirkung eines Wohnungsbrand beziehungsweise Containerbrandes vor dem Gebäude gleicht, um die Brandsicherheit der Fassade zu überprufen.”

Für Hausbewohner empfiehlt Aschenbrenner: “Fassade genau angucken und beispielsweise auf Schäden überprüfen, keine brennbaren Objekte direkt neben dem Haus abstellen, Müllereimer bestenfalls einhausen.”

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